Wäre dieser Vodka ein Mensch, er wäre der perfekte Schwiegersohn. Er besitzt Esprit von Welt und ein gepflegtes Äußeres; er ist selbstbewusst und süß, hat Erfolg und ein Herz für Bedürftige. Ein Besuch in seiner Kinderstube sucht nach Spuren und Schatten seines schleierhaften Daseins.
Es bleibt ein seltsames Phänomen mit den Strebern. Man kann ihnen wenig vorwerfen – provozierend wenig. Die erhaben erfolgreiche Bilanz des ambitiösen Multi-Talents, das dabei auch noch lässig lächelt, findet für gewöhnlich nur selten Gönner. Zum Glück aber manchmal doch.
Der schmucke Streber innerhalb der Getränkelandschaft heißt Our/Berlin. Seit gerade einem Jahr vertreiben Our/Berlin nun ihr Spreewasser im Medizin-Outfit, an über 150 Orten sind die 350 Milliliter in Kronkorken bereits erhältlich: in Mitte, in Kreuzberg und Neukölln, in Hamburg, in München und Stuttgart, im Laden, an der Bar und online. Kaum mehr vermessen daher, dass noch in diesem Jahr Our/Amsterdam, Our/Stockholn und Our/Detroit das Licht der Welt erblicken sollen. Ein von Pernod Ricards Marketing-Abteilung geleitetes Geklüngel mit der seismographischen Prise „Start-Up“? Dazu ein Haufen Vodka-Nerds im Medizin-Kittel, die tagein tagaus an einer Rezeptur basteln und über das Periodensystem hinaus kaum sprechen können? So sollte man meinen.
Chichi mit Charme
Die Wirklichkeit sieht anders aus: Etablierter Konzert trifft engagierte Berliner und zusammen destillieren sie einen Lifestyle, der sich gewaschen hat. Und das sowohl in den Wash Stills am Flutgraben, als auch in den Soft Skills einer umtriebigen Truppe ambitionierter Alles-Könner. Geleitet von der Agentur „Paul Sanders“ – Pauline Hoch und Jon Sanders – wird die gerade einmal 7-köpfige Crew nicht müde, 1.500 Flaschen in der Woche in der Treptower Mikro-Destille zu brennen, abzuschmecken, von Hand abzufüllen, zu bekleben und diese bis vor Kurzem gar mit einem Päckchen Phacelia- und Tatarischen Buchweizen-Samen zu beheften. Die wachsen auch vor der Tür der mitunter bestbewachstesten Destillerie Deutschlands. Hat ja auch eine halbe Millionen Euro gekostet, die Pernod Ricard da verkupfert hat – für ein silbernfarbenes Produkt und eine Goldmedaille im Marketing.
Die Rezeptur ist überall dieselbe, die Rohstoffe lokal – in jeder Our/Kapitale. Und sobald die Grundmixtur in den Regalen der Welt erst einmal Einzug gehalten hat, wird auch an geschmacklich lokale Editionen getüftelt. Ein Vodka, der nach Berlin schmeckt? „Nun wollen wir ja keinen Vodka herstellen, der nach Kacke und Bier schmeckt,“ lacht Julia Michaelsen vor der Bodenseer Brennblase. Die studierte Grafik-Designerin bastelt, gemeinsam mit Pauline und Jon, an Farben und Festen, schenkt ein und denkt nach. Zum Beispiel über eine Edition, die nach Rauch schmeckt. „Sowas gibt’s sonst nur bei Whisky, wieso nicht auch bei Vodka? Das passt zu Berlin, ist neu und wir glauben, das schmeckt“. Die detailverliebte Dynamik der destillierenden Kreativ-Klinik belegt selbst die aromatischen „White Trash“-Anklänge noch mit Charme. Und anstelle beruhigender Brüche einer bald überbordenden Bedachtsamkeit, wird in der Brutstätte des Berliner Streber-Spirituose... auch noch gespendet.
„Trinken hilft“
Aus lauter lokaler Leidenschaft bietet die Crew Kräuterexkursionen zur Erkundung der heimischen Flora an; in Kombination mit Heilkräutern ist Vodka schließlich appetitliche Arznei. Und als müsse man Kräutersammler nicht ohnehin lieb haben, tut man mit dem Trinken im Falle des Our/Berlin auch noch Gutes. Der neue und bei ausgesuchten Spätkaufs erhältliche „4-Pack“ ist bestückt mit einer Flasche Our/Berlin, mit LemonAid und ChariTea – unschwer am Namen zu erkennen, ein weitsichtiges, wohltätiges und überhaupt weltfreundliches Pack. Die Limos steuerten beim Open WORD-Festival auch den Slogan „Trinken hilft“ bei – wurden doch mit dem Kauf der Getränke Bildungsprojekte in Sri Lanka unterstützt. Das Schlimme an den schlimmen Strebern ist, dass man ihnen nicht einmal verstocktes Verbesserungstum ankreiden kann, denn selbst da wurde vorgesorgt. Also liegt dem Power-Paket noch ein Tütchen Konfetti bei. Es ist nämlich nicht so, dass man am Flutgraben nicht zu feiern wüsste. Im Sommer findet die Bar ihren Weg ins Gras, der Vodka ins Glas und ein Newsletter die Postfächer seiner Abonennten, die er zum Drink direkt aus der Destille bei Abendsonne einlädt.
So sehr man gegen Rundum-Konzeptionen einer gesellschaftlichen Adaption an das Berliner Dasein auch wettern mag – entspannen ist besser. Und so sehr die Berliner „We make it“-Mentalität bisweilen nerven mag: es ist ganz unnütz, etwas gegen ein dermaßen beherztes Bisschen Bio-Berlin zu hegen, wenn sich zwei Hand voll denkender Trinker zusammentun. Heiraten, also. (JR)
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